Mehr Zuversicht wagen

Für mich mit 16, in grauer Vorzeit im Jahr 1969, war an so etwas wie Wahlbeteiligung überhaupt nicht zu denken. Wählen durften nur Volljährige ab 21 Jahren. 1969 hatten Beatles ihr letztes gemeinsames Konzert. Das Massaker an Zivilisten, das amerikanische Soldaten im Vietnamkrieg in My Lai ausgeübt hatten, wurde bekannt. Wir waren mitten im Kalten Krieg. Es war gerade mal acht Jahre her, dass um Ostdeutschland, die damalige DDR, eine Mauer gebaut worden war. Von so etwas wie Klimakrise hatte noch niemand gehört. Die GRÜNEN gab es noch nicht. In Westdeutschland, in der Bundesrepublik, wurde das größte Kohle-Subventionsprogramm aller Zeiten aufgesetzt.

Erstmals wurde ein SPD-Mitglied Bundeskanzler. Es war Willy Brandt, der unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ das größte Reformprogramm der Nachkriegsgeschichte auf den Weg brachte.

Damals war Sexualkontakt zwischen Männern noch strafbar. Ehefrauen mussten den Ehemann um Erlaubnis fragen, wenn sie einen Beruf ausüben wollten. Selbstverständlich war Abtreibung ebenfalls strafbar. Die Frauen fuhren heimlich in die Niederlande. Die EU, wie wir sie heute kennen, mit der gemeinsamen Währung und dem freien und friedlichen Austausch von Menschen, Waren und Dienstleistungen, lag noch in ferner Zukunft. Damals hieß das EWG, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Erst ein Jahr zuvor waren die Zölle, die Handelsbarrieren zwischen den damaligen Mitgliedsländern, abgeschafft worden. Das jährliche Durchschnittseinkommen betrug ca. 12.000 DM.

Es ist auch heute nicht alles gut in Europa und in Deutschland. In der Politik werden viele Fehler gemacht. Wir haben geopolitische Krisen und Kriege vor der Haustür, wir haben eine Regierungskoalition, die sich viel zu oft öffentlich streitet, unter einem Bundeskanzler, der auf keinen Fall zu viel wagen möchte, und wir haben eine EU, in der ebenfalls viel gestritten wird und in der es zweifellos viel Reformbedarf gibt.

Aber niemand soll mir sagen, dass es deshalb besser ist, die liberale Demokratie abzuschaffen und zurückzukehren in die Zeiten von Nationalismus, Abschottung und illiberalen Regimen. Geht wählen für unser demokratisches Europa, auch Ihr 16- und 17-Jährigen! Ich bin zuversichtlich: Gemeinsam können wir eine gute Zukunft gestalten.

Dr. Andrea Wörle, Ortsvorsitzende BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Oberschleißheim